Ich erinnere mich an eine Team-Besprechung im MACBA – es muss um 2010 herum gewesen sein –, in der es um Überlegungen zu einer Museumszeitschrift ging. Ich konnte nicht genau beschreiben, welchen Inhalt ein solches Projekt haben sollte, nur mantraartig wiederholen, dass wir ein neues Referenzsystem brauchten. „Schluss mit der Dialektik! Neben der Hegel-Marx-Adorno-Achse muss es noch andere Denkweisen geben!“ Im spezifischen Kontext damals wussten meine Gesprächspartner*innen um die Gefahr, den kanonischen, politisch-pädagogischen Rahmen zu verlassen. Was war eigentlich meine Aussage? Wenn man sich von bestimmten konzeptuellen Prämissen und vom intellektuellen Kosmos der Linken trennte, konnte dies bedeuten, hohle Kunsterzeugnisse zu billigen, die auf Publikumswirksamkeit oder, noch schlimmer, auf Markttauglichkeit abzielten. Richtig. Und doch fiel es sehr schwer, die ästhetischen und ideologischen Bedingungen eines politisch engagierten Konzeptualismus und dessen Blindheit gegenüber Geschlechtergleichheit, Intersektionalität und dem eigenen westlichen Weißsein zu ertragen.
Konnte man das Risiko rechtfertigen, die Tradition aufzugeben, um sich auf etwas Unbekanntes einzulassen? Und war es überhaupt etwas Unbekanntes? Oder mussten wir uns nur einfach sorgfältig mit der Vergangenheit auseinandersetzen und Stoffe, Stimmen und Werke wieder zusammenzubringen, die den Kosmos der Zuwendung umfassten? Vielleicht war es an der Zeit, die Philosophie durch die Poesie zu ersetzen, ohne zu befürchten, dass jene anderen Disziplinen verlorengingen. Plötzlich spürte ich eine neue Energie aus der Kunst der Gegenwart hervorgehen, die nicht nur auf die Erschließung von Bedeutung zielte, sondern auch auf die Erschließung des Erlebens von Kunst als übergreifende Erfahrung von Liebe. Langsam wie ich bin, konnte ich dies nicht sogleich artikulieren. Aber ich spürte, dass die Worte von Künstler*innen, die mir wichtig waren – von Joan Jonas über Ida Applebroog bis Nancy Spero – mir Wege weisen würden, die Frage der Liebe als Frage des Lebens zu begreifen.
Ich empfand auch eine schwere Last durch mein Wissen ebenso wie durch mein Unwissen. Meine akademische Ausbildung war Ergebnis meines Wunsches, im fraglichen Fachgebiet ebenso viel Wertschätzung zu erfahren wie jeder Mann. Wie sonst ließe sich meine Entscheidung für ein Philosophiestudium erklären? Und doch war diese Entscheidung – wie vermutlich bei vielen Künstlerinnen auch – in Bezug auf verbotene Empfindungen, persönliche Erfahrungen und Identität sehr strikt. Diese drei Bereiche waren die Ursache des Problems. Welches Problem? Der Teil, der nie angesprochen wurde. Es war, als ob wir in der rituellen Vermeidung eines Tabus verfangen wären. All meine Lehrer – männliche Philosophen – unterstrichen die Bedeutung der kritischen Tradition. Eine Tradition, die auf Distanz, Logik und Trennung setzt. Binäre Logik schien der einzige Nährboden zu sein, auf dem objektive Wahrheit wachsen konnte. Das fiel mir nicht schwer! Da ich aus ärmlichen, ländlichen Verhältnissen stamme, war ich das ideale Subjekt, um den Beweis dafür zu anzutreten. Auf der Suche nach einem Thema für meine Abschlussarbeit fand ich das perfekte Material: Ich würde über Suzi Gablik und ihre Auseinandersetzung mit der Wiederverzauberung der Kunst schreiben. Ich erinnere mich noch gut an meine Disputation. Ich kritisierte ihre Arbeit als Versuch, die Fundamente der ästhetischen Theorie und Urteilskraft durch Wiedereinführung einer Verbindung zwischen Ästhetik und Ethik zu schwächen, die „mit unserer Rückkehr ins religiöse Mittelalter enden könnte“!
Ist es zulässig, einen Beitrag auf einer Plattform wie dieser zu nutzen, um mich zutiefst dafür zu entschuldigen, dass ich die unglaubliche Weitsicht ihrer Arbeit nicht erkannte? Ich entschuldige mich entschieden dafür. Das Gute ist, dass etwas in der Haltung meiner Lehrer mich zu ihr hin trieb – eine Autorin, die von ihnen und der sakrosankten Tradition der Adorno-Schule unbeachtet blieb. Ich habe ihre Schriften nie aus den Augen verloren. In ihrem Buch Has Modernism Failed? schrieb sie, dass ästhetische Autonomie eine tiefverwurzelte Idee sei, die moralische und gesellschaftliche Individuation als Bedingung für die Kunstproduktion suggeriere. Gablik argumentierte, dass wir diese Idee zugunsten einer ganzheitlichen Vision der Welt aufgeben müssten, in der Kunst und Ethik nicht nur koexistierten, sondern auch miteinander kooperierten. Mir war die immense Wichtigkeit des genauen Durchdenkens dieser beiden Konzepte ¬– Koexistenz und Kooperation – nie in den Sinn gekommen. Auf einmal erschien Autonomie vor meinem inneren Auge wie ein Imperium. Erfahrung, auf der anderen Seite, trat als Eigenschaft hervor, die die Bedingungen für Wechselseitigkeit und Anteilnahme schaffen konnte: Koexistenz und Kooperation. Die Religion, die ich in meiner wissenschaftlichen, akademischen Erstarrung bekämpfen wollte, lag nicht in der poetischen Sprache von Suzy Gablik – und so vielen anderen –, sondern in der radikalen Institutionalisierung der Autonomie (und ihren wesentlichen Merkmalen) als Schlüsselinstrument zur Kolonisierung von Kultur und zur Aufrechterhaltung der Differenz zwischen Unterdrückern und Unterdrückten.
Und doch schien es so schwierig, die Institutionen mit dieser Erkenntnis zu konfrontieren. Was, wenn die kritischen Stimmen, die bestimmte etablierte Blickweisen auf die Funktion von Kunst und Künstler*innen unterstützten – das Ganze als schwachen Versuch abtun würden, das Herz des Publikums zu gewinnen, ohne diese Ebene zu berücksichtigen? Plötzlich war die Kunstwelt von Organisationsstrukturen besessen: Präsentationssysteme, Partizipation – alles übertragen in den starren Granit von Form und Funktion. Der weiße Kubus – samt seiner negativen Eigenschaften und Ansprüche auf Neutralität – war wieder wichtig. Wie also einen anderen Erfahrungsraum schaffen? Einen so weitläufigen, kraftvollen, dass die westliche Welt das gängige Denkmuster für eine Weile vergessen würde, am besten für immer. Und dann wieder das Museum! Es schien, als diskutierten wir über Formatierungsmöglichkeiten, die Microsoft zur Erstellung eines neuen Textdokuments zur Verfügung stellt. Das war vermutlich der Punkt, an dem mir klar wurde, dass performative Künstler*innen die Energie besaßen, die uns retten konnte. Bewegung, Tanz, die Gestaltung von Ritualen, die Beschwörung und Neuprogrammierung der Bedingungen, die wir für einen radikalen Wandel hin zu sozialer Gerechtigkeit benötigten. Neben der Performance trat auch die Technologie auf die Bühne und auch alle Künstler*innen, die sich mit Natur, indigenem Wissen, Care beschäftigten… Stück für Stück näherten sich die Worte, die gesprochen wurden, die Forschung, die betrieben wurde, und all das, was über Jahrzehnte in Kategorien wie Feminismus, Ökologie, Aktivismus geordnet schien, einander an und begannen sich gegenseitig zu berühren. Nicht dass sich dies – bisher – in den Programmen und Strukturen des Kunstsystems oder selbst in der Kunsterziehung widerspiegeln würde: Es liegt noch so viel vor uns.
Doch spüre ich wirklich, dass die Vorstellung einer nonbinären Welt Form anzunehmen beginnt. Was sagt diese aus? Darin drückt sich – ohne einen Funken Utopie – die Möglichkeit aus, ohne die Gewalt, die durch binäre Trennungen auferlegt wird, zu leben. Ein Leben ohne Gewalt: ist es nicht das, worum es in der Kunst grundsätzlich geht? Die Kunst mag diese abbilden oder thematisieren, aber ihr eigentliches Ziel ist es, die Gewalt aus der Sphäre der Wirklichkeit herauszuhalten. Eine neue Ära verlangt einen neuen Menschen: einen Menschen, der fähig ist, sich eine Welt ohne Katastrophen vorzustellen – ohne die Dualität zwischen Himmel und Hölle, Mensch und Natur. Die Aufgabe der Anpassung – unseres Geists, unseres Körpers, unserer Zellen – an eine Interpretation von Leben als eine Praxis wechselseitig produktiver Beziehungen des Wissens, des Denkens und der sorgenden Zuwendung nimmt im Zuge sich verändernder Machtverhältnisse Gestalt an. Dies scheint mir der größte Beitrag der Kunst und Künstler*innen zu sein. Die Erfindung und Umsetzung neuer Formen der Auseinandersetzung offenbart die Unzulänglichkeit unserer Institutionen. Noch wichtiger ist, dass die Rolle, die die Sinne bei der Entstehung von Sprache spielen, einen erkenntnistheoretischen Wandel bewirken kann – einen Wandel, der eine ethische Metamorphose des Wissens, des Denkens und der Fürsorge umfasst.
Ich habe diesen Artikel mit der Überlegung begonnen, dass die Philosophie durch die Poesie ersetzt werden könnte. Und ich möchte ihn mit einem Plädoyer beenden, der Philosophie gegenüber Erbarmen zu zeigen und ihr zu gestatten, erneut die vielen Aspekte zu zeigen, die die Disziplin vermitteln sollte: eine Vorstellung von Immanenz, von erkenntnistheoretischer Zusammengehörigkeit, von Freiheit und Liebe. Mehr denn je brauchen wir all jene Stimmen, die Gedanken formulieren, aus denen Möglichkeitswelten für das Zusammensein hervorgehen. In dieser Hinsicht hat mich mein ständiger Austausch mit jungen Künstler*innen sowie meine Arbeit an der TBA21 Academy zum Zusammenspiel zwischen Kunst, Wissenschaft und politischer Gestaltung gezwungen, noch aufmerksamer auf den Charakter der Strukturen zu achten, die wir neu erschaffen. Wir müssen vermeiden, die gleichen Fehler zu machen. Ich habe vorhin von meiner akademischen Ausbildung gesprochen, aber es ist ebenso wichtig, meine Unwissenheit zu erwähnen, die Tatsache, dass wir Wissenserwerb auf radikale Weise verändern müssen.
Da es unmöglich ist, die übernommenen Strukturen über Nacht zu transformieren, können wir ein System der Großzügigkeit einführen, das so mitreißend ist und bereit, sich aktiv einzubringen und zu wirken, dass es seine eigenen Ergebnisse ohne Analyse oder Revolution herbeiführt. Man stelle sich einen Tisch vor, der so freigiebig ist, dass er seine Arbeitsfläche in eine Prärie verwandelt und seine statischen Beine durch vier wunderschöne elastische Laufbeine ersetzt. Man könnte weiterhin seine typologische Tischhaftigkeit erkennen und doch wäre seine Funktion nicht, Bücher oder Computer zu halten, sondern uns stattdessen zu ermöglichen, uns entspannt niederzulegen und zu denken. Hannah Arendt fand den perfekten Begriff, um diesen Zustand des Verlierens und Gewinnens zu beschreiben: Weltlosigkeit 1 Wenn das Wort „Welt“ als Terminus für den Raum des Greifbaren Verwendung findet, dann benennt der Verlust der Welt die Verpflichtung, ein neues Bündnis zwischen allen Formen des Lebens zu stiften. Dieses Bündnis – die Prärie, die Laufbeine, vor allem aber die Kunst und die Künstler*innen – ist das, was ich Liebe nenne. Das Zeitalter der Liebe ist das Zeitalter der Kunst.
Prof. Dr. Chus Martínez, geboren in Spanien, ist international als Kunsthistorikerin, Kuratorin und Autorin zahlreicher Schriften zur zeitgenössischen Kunst aktiv und Direktorin des Instituts Kunst Gender Natur an der Hochschule für Gestaltung und Kunst FHNW in Basel.
Der Essay erschien erstmals unter dem Titel „The Age of Love: Notes toward a Nonbinary World“ in: FLASH ART, 334 / Frühling 2021, Features, 11. März 2021.