Yunus Emre
Ich wünschte, die Vorstellung, dass man sich nur dreimal im Leben verliebt oder dass Seelenverwandtschaft, karmische Liebe und Zwillingsseele das Liebesleben prägen, wäre bloß esoterisch, doch dieser Text über die Kraft der Liebe, verfasst von einem anatolischen queeren Kopf mit einer sufistischen Familientradition und einem gebrochenen Herzen, beruht auf konkreten Erfahrungen.
In meiner Heimatstadt, Karaman, wird Yunus Emre als eine der berühmtesten Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens gesehen. Ich bin umgeben von seinen Worten an Hauswänden und seinen Büsten aufgewachsen. Zahlreiche Szenarien kursieren hinsichtlich seiner Biografie und seines Geburtsorts; anatolische Städte wie Eskişehir, Kütahya, Karaman oder Aksaray erheben ironischerweise alle gleichermaßen Anspruch auf das kulturelle Erbe dieses Mystikers aus dem 13. Jahrhundert, der sich unermüdlich für die Kraft der Liebe, für das Teilen und die Vergebung einsetzte. Diese Unklarheit brachte uns zugleich der Erkenntnis, welchen weitreichenden Einfluss er in der Region hatte. Lassen Sie mich einmal verdeutlichen, warum ich mich bei einer komplexen Gleichung zwischen Frieden und Liebe auf diese Figur beziehe.
Yunus Emres Lyrik handelt oft vom Thema Liebe, insbesondere der göttlichen Liebe. Er bringt darin ein Verständnis von Liebe zum Ausdruck, das über menschliche Beziehungen hinausgeht und auf eine tiefe Verbindung mit Gott verweist. Diese Liebe ist nicht nur spirituell, sondern auch weltlich geprägt und betont die Notwendigkeit, allen Menschen Mitgefühl und Wohlwollen entgegenzubringen. Anstatt die Realität der Liebe zu mystifizieren, zu umschreiben oder zu idealisieren, regt er eine praktische Anwendung dieses Diskurses an. Wiederholt schrieb er, dass wahre Liebe Demut und Selbstlosigkeit voraussetzt. Vergebung stellt ein weiteres zentrales Thema im Werk von Yunus Emre dar. Er betont, wie wichtig es ist, anderen zu verzeihen, da dies ein wesentlicher Aspekt des spirituellen Wachstums und inneren Friedens ist. Für ihn steht das Festhalten an einem gehegten Groll klar im Widerspruch zum Weg eines wahren Gläubigen. Seine Botschaften ermutigen die Menschen, Vergebung zu suchen und zu schenken und entsprechen damit den im Zentrum des Sufismus stehenden Werten des Mitgefühls und des Verständnisses. Yunus Emres Auffassung von Glauben ist eine zutiefst persönliche und erfahrungsorientierte. Er vermittelt uns, dass der Glaube keine rein intellektuelle Überzeugung ist, sondern eine von Herzen kommende Verbindung mit dem Göttlichen beinhaltet. Seine Dichtung veranschaulicht die Einfachheit und Tiefe dieser Beziehung, ermutigt Anhänger vermehrt dazu, eine unmittelbare Gotteserfahrung zu suchen, statt sich ausschließlich auf dogmatische Lehren zu verlassen. Für ihn ist der Glaube eng mit Liebe und Vergebung verwoben und bildet so einen ganzheitlichen Zugang zu Spiritualität. Kurz gesagt, er schlägt ein methodisches Denken für die Liebe vor, während einige Jahrhunderte später, William Shakespeare immer noch von der Liebe schrieb wie von einer Art Krankheit oder Leiden.
“My love is as a fever, longing still
For that which longer nurseth the disease;
Feeding on that which doth preserve the ill,
The uncertain sickly appetite to please.”
William, Shakespeare2
Ist dies eine Möglichkeit, sich dem Dilemma anzunähern, das Michael Hardt aufzeigt, wenn er feststellt: „Doch man wird das Problem nicht lösen, wenn man Liebe auf diese Weise differenziert. Man gelangt damit nur zu zwei Vorstellungen von Liebe, die beide nicht lebbar sind – die eine steht außerhalb der Zeit, weil sie nichts als Veränderung ist, die andere, weil sie keinerlei Veränderung zulässt.“?3 Entweder sind wir bereit, uns von der Liebe verändern zu lassen und akzeptieren, dass jemanden zu lieben zugleich bedeutet, dieser Person die Macht zu geben, uns zu zerstören, oder wir fürchten die Liebe, weil sie zu eng mit unserer Angst vor Verlust und Zugehörigkeit verbunden ist.
Mit drei Männern verheiratet
Als ich diesen Text schrieb, hielt ich mich die meiste Zeit in Istanbul auf. Die meisten Menschen in meinem Umfeld zeigen sich in letzter Zeit besorgt über die zunehmende Gewalt gegen Frauen, Tiere und Kinder in diesem Land. Die wirtschaftlichen Verhältnisse, politischer Druck sowie andere Unwägbarkeiten haben zu einer radikalen Verschiebung hin zu häuslicher Gewalt und Verbrechen gegen andere geführt. Dies geschieht in einem Land, in dem es eine lange Tradition gibt, Frauen aus männlichem Stolz, aus familiärem Ansehen oder aus „Liebe“ zu töten, wie es absurderweise heißt. So dachte ich an ein früheres Werk, eine Videoperformance von Şükran Moral: Married with Three Men (2010) sowie eine Fotoserie mit dem Titel Mardin aus demselben Jahr. Die Künstlerin erzeugt einen skandalösen Moment, indem sie gesellschaftliche Tabus bricht in einem Land, in dem Frauen früher als in vielen anderen europäischen Ländern das Wahl- und Stimmrecht erhielten und wo auch die islamische Regel abgeschafft wurde, nach der Männer vier Frauen entsprechend ihren Bedürfnissen und Anforderungen an den Haushalt heiraten durften. Es handelt sich hier um ein umfassendes Problem, welches von einem Pariser Kollektiv, das hinsichtlich seiner gemeinsamen Urheberschaft anonym bleiben wollte, klar definiert wurde:
„Was die Zivilisation den Körpern von Frauen angetan hat, unterscheidet sich nicht von dem, was sie der Erde, den Kindern, den Kranken, dem Proletariat angetan hat, kurz gesagt, von allem, was nicht ,sprechen‘ soll, und generell von allem, was die Wissensmächte der Regierung und des Managements nicht hören wollen, und das somit zum Ausschluss von jeglicher anerkannten Aktivität und zur Rolle eines Zeugen degradiert wird.“4
An diesen fotografischen und performativen Arbeiten ist nichts ungewöhnlich, abgesehen vom Blick der jungen Männer, die mit schüchternen, beunruhigenden und unglücklichen Augen in die Kamera schauen. Şükran Moral ist wahrscheinlich eine der umstrittensten Künstlerinnen in der bislang begrenzten Geschichte der Performance-Kunst in der Türkei und sie beschäftigt sich in ihren Arbeiten mit sozialen Themen wie Einwanderung, Prostitution, Feminismus, Gleichberechtigung, Tod, Sex und Geisteskrankheiten. Diese Arbeiten fungieren als eine Erinnerung an die Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern, Ungerechtigkeiten und Gewalt in den Formen der Tradition. Sie rufen uns ins Gedächtnis, dass die Ehe eine Erfindung aus dem viktorianischen Zeitalter ist, eine Form des Rituals oder der Zeremonie, die nicht nur die Dauer der Liebe festlegt, sondern überdies eine Institution schafft, die ihr Territorium und ihre faktischen Rechte zur Fortpflanzung und zum Teilen von Privatbesitz schützt. Wir sind nicht schockiert, als der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan sich bei Italiens Premierministerin Giorgia Meloni für ihre Haltung zur Unterstützung des Konzepts der Familie und zur Wahrung von Familienwerten gegenüber den LGBTQ+-Befürwortern bedankte. Diese Nachricht wird im PR-Marketing und der Kommunikation des Staates gar noch betont. Es scheint, als ob der einzige verbleibende Staatsfeind in Europa die Schwuchteln sind!
Das Trolley-Problem: Ist es heute noch möglich zu lieben?
Ein Gedanke, den Hardt in seinem Diskurs über die Liebe klar formuliert, basiert auf Vorstellungen von Ritual, Zeremonie und Institution: „Die Institutionalisierung der Liebe, mögen Sie einwenden, wird ihr Tod sein! Nein: Tatsächlich kann Liebe nur als Institution, als eine Abfolge zeremonieller Wiederkehrten existieren.“5
Es hat nun lange gedauert, die unterschiedlichen Ansätze des Sufismus und der Queer-Kultur unter einen Deckel zu kriegen. Als verwestlichte Formen von Identität nehmen wir den Körper meist als Eigentum wahr, als etwas, das wir besitzen, als eine Art Raum, der uns gehört. In der westlich-zentrierten Lesart von Feminismus und Queerness existiert die Position „mein Körper, mein Raum, meine Politik“6 schon seit den 1960er Jahren, und in den 1990er Jahren erreichte sie mit dem Aufkommen der Gender Studies und des neuen Feminismus ihren Höhepunkt. Gleichwohl sind wir Teil einer Kette, die uns mit jenen vor uns sowie jenen nach uns, mit unseren Vorfahren und den Generationen nach uns verbindet. Mein Körper gehört nicht nur mir. Selbstverständlich kann ich ihn tätowieren, piercen und eine eher nihilistische oder punkige Haltung einnehmen. Ebenso jedoch bin ich Teil dieser metaphysischen, spirituellen und auch entwicklungsbedingten Verbindung. Um die Liebe zu schützen, habe ich angefangen, verstärkt an lebendige Formen von Wildnis zu glauben. Das Trolley-Problem wird in der Regel als die eher allgemeine philosophische Frage ausgelegt, ob es ethisch vertretbar ist, eine Handlung zu vollziehen, die jemandem schadet, um zu verhindern, dass eine größere Anzahl von Menschen Schaden nehmen. Deshalb bringt es meines Erachtens wenig, sich zu fragen, ob Liebe – per Definition – überhaupt möglich ist oder nicht. Darum kann es nicht gehen. Vielleicht können wir uns mit dieser Frage auf eine andere Ebene begeben: Wie können wir in einer Welt voller sozialer Isolation, Zerrissenheit und Zerstörung die Liebe schützen und Fürsorge und Mitgefühl entwickeln?
Wir sind zunehmend voneinander abgeschnitten. Die Pandemie hat uns nachhaltig erschüttert. Mittels strategischer Werkzeuge zur Strukturierung unseres Alltags wurden wir ausführlich mit Phänomenen der Isolation und Kontrollmechanismen vertraut – und haben es bis heute nicht geschafft, uns von dieser emotionalen Belastung zu befreien. Die erneute Lektüre des Aufsatzes von Hardt fast zwölf Jahre später hat mir vor Augen geführt, dass uns durch diese Situation ein beachtlicher zeitlicher Abschnitt, Möglichkeiten der Intimität und insbesondere Momente der „Nähe“ regelrecht gestohlen wurden. Aufgrund einer politischen Strategie wurden wir voneinander abgeschnitten und in diesem Sinne leben wir heute in einer Welt, die nicht nur von künstlicher, sondern zugleich auch von horizontaler Intelligenz vereinnahmt wird. Die jüngsten Diskussionen über Selbstliebe, altruistische Liebe und romantische Liebe im Zeitalter der Digitalisierung und KI zeugen von einem komplexen Zusammenspiel zwischen Technologie, menschlichen Empfindungen und Beziehungen. Mit Plattformen wie Instagram, TikTok und anderen hat das Thema Selbstliebe an Beachtung gewonnen. Viele Influencer*innen und Verfechter*innen der psychischen Gesundheit werben für Selbstfürsorge und Selbstannahme und tragen so zu einer breiteren kulturellen Akzeptanz von Diskursen über psychische Gesundheit bei. Die kuratierte Struktur der sozialen Medien kann allerdings auch zu Vergleichungen und Gefühlen der Unzulänglichkeit führen, was wahre Selbstliebe wiederum erschwert. KI-gesteuerte Anwendungen, die sich auf die psychische Gesundheit konzentrieren und Ressourcen für Selbstfürsorge und Achtsamkeit bieten, sind im Kommen.
"[...] im gleichen Maße, wie [Wild Things] eine Genealogie der Wildheit ist, bietet es eine alternative Geschichte der Sexualität, in der die sogenannte natürliche Welt weder eine Kulisse für menschliche Romantik noch der Garant für Normativität ist. Wildheit strebt vielmehr nach der Auflösung dieser Welt und stellt ihr Verhängnis dar“, da sie innerhalb und jenseits des „Kanons des modernistischen Denkens“ angesiedelt ist.7
Der Anstieg von Online-Dating-Apps hat die Art und Weise, wie romantische Beziehungen geknüpft werden, grundlegend verändert. Algorithmen und künstliche Intelligenz spielen beim „Matchen“ von Personen eine entscheidende Rolle anhand von Präferenzen, Verhaltensweisen und sogar Prognosemodellen für Kompatibilität. Zwar kann dies durchaus Anschlussmöglichkeiten fördern, zugleich jedoch lässt es Bedenken aufkommen hinsichtlich der Reduzierung von romantischer Liebe auf Datenpunkte und Algorithmen. Technologien können einerseits Beziehungen erleichtern und mehr Mitgefühl ermöglichen, andererseits können sie die traditionellen Vorstellungen von Liebe und Beziehungen auch verkomplizieren. Der Diskurs über diese Themen wird sich im Zuge des gesellschaftlichen Umgangs mit den Auswirkungen moderner Technologien auf die grundlegende menschliche Erfahrung von Liebe und Beziehung stetig weiterentwickeln. Dabei bleibt die Bedeutung von Achtsamkeit, Authentizität und echter Interaktion essenziell, wenn es darum geht, in dieser digitalen Landschaft alle Formen der Liebe zu fördern.
Quasi am Ende des Entstehungsprozesses des vorliegenden Textes kam ich an einem Bahnhof in einer deutschen Stadt an und bemerkte, dass die Haupthalle mit unzähligen Werbeplakaten für eine neue Dating-App-Marke bestückt war. Die meisten für diese Kampagne verwendeten Gesichter verkörpern eine bestimmte Vorstellung von Vielfalt, u. a. durch ihre Hautfarbe, ihr Aussehen, Styling, Alter und ihre soziale Herkunft. Ich schaute mich um und suchte nach ähnlichen glücklichen, gesunden, vielfältigen Gesichtern.
Ich konnte sie nicht finden.
All die Versprechungen, die wir jungen Menschen in Bezug auf die Liebe machen, sind eine große Lüge, denn es gibt für sie keinen anderen Raum mehr als den Bildschirm, um Intimität, Zuwendung und Leidenschaft zu erfahren: So werden sie nach etwas suchen, das sie noch nie erlebt haben und von dem sie nicht wissen, ob es möglich ist oder nicht.
Auch darin liegt Frieden verborgen: Eure Beziehung zu eurem Körper ist die gleiche wie eure Beziehung zum Planeten. Es ist ein geistiger Ort, es ist ein gemeinsames Land.
Wenn du dort Frieden findest, kannst du überall Frieden finden.
Misal Adnan Yıldız ist Kurator, Autor und Forscher und bezieht Inspiration durch seine mediterrane Herkunft, die Sonne, das Wasser und die Poesie. Von 2020 bis 2024 war er Direktor der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, eine Position, die er gemeinsam mit Çağla İlk innehatte. Von 2014 bis 2017 war Yıldız Direktor des Artspace Aotearoa in Auckland, Neuseeland und zuvor, von 2011 bis 2014, künstlerischer Leiter des Künstlerhauses Stuttgart, Deutschland. 2021 war er Ko-Kurator der Hauptausstellung der 6. Ural-Industrie-Biennale in Jekaterinburg, Russland. Im Jahr 2025 ist er im Rahmen des Kulturhauptstadtprogramms GO! internationaler Kurator der MEDITERRANEA 20 (European Young Artists Biennial, BJCEM).
- 1 Grace Martin Smith (ed.): The Poetry of Yunus Emre, A Turkish Sufi Poet, Übersetzung Talat Sait Halman, Berkeley und Los Angeles: University of California Press, 1993, S. 124
- 2 William Shakespeare, Sonnet 147, first published in: Shakespeare’s Sonnets: London: Thomas Thorpe, 1609: shakespeare.mit.edu/Poetry/sonnet.CXLVII.html
- 3 Vgl. Michael Hardt: The Procedures of Love / Die Verfahren der Liebe. 100 Notes – 100 Thoughts / 100 Notizen – 100 Gedanken, No. 068, dt./engl. Hrsg. von dOCUMENTA (13) / documenta and Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH, Kassel, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, 2012, S. 4–5: bettinafuncke.com/100Notes/068_Hardt.pdf
- 4 Tiqqun #2, Sonogram of a Potential, Brooklyn: Pétroleuse Press, 2011, S. 22; franz. Erstveröffentlichung unter: Echographie d’une puissance, 2001, Zitat hier ins Deutsche übersetzt: azinelibrary.org/approved/sonogram-potential-1.pdf
- 5 Michael Hardt: The Procedures of Love / Die Verfahren der Liebe. 100 Notes – 100 Thoughts / 100 Notizen – 100 Gedanken, No. 068, dt./engl., Hrsg. von dOCUMENTA (13) / documenta and Museum Fridericianum Veranstaltungs-GmbH, Kassel, Ostfildern: Hatje Cantz Verlag, 2012, S. 22: bettinafuncke.com/100Notes/068_Hardt.pdf
- 6 Vgl. u.a.: Wendy Harcourt: Body Politics in Development: Critical Debates in Gender and Development, London: Zed Books, 2009: pure.eur.nl/ws/portalfiles/portal/122258460/10.4324_9781003036432-11_chapter.pdf
- 7 Jack Halberstam: Wild Things. The Disorder of Desire, Durham, North Carolina: Duke University Press, 2020, S. 22, Zitat hier ins Deutsche übersetzt: dukeupress.edu/wild-things