Narrative über Kriege sind in der Regel durch einen primären Fokus auf Gewalt, Leid, und Grausamkeiten gekennzeichnet. Doch auch im Kontext von Krieg und Gewalt verlieben sich Menschen ineinander, führen intime Beziehungen und kümmern sich umeinander. In unserer bisherigen Forschung haben wir diesen Aspekten von Liebe und Fürsorge im Krieg nur unzureichend Aufmerksamkeit zukommen lassen. Vor diesem Hintergrund stellen wir in unserem neuen Forschungsprojekt die Frage: Wie können Praktiken der Liebe und Fürsorge dazu beitragen, im Schatten von Gewalt und Krieg neue Lebenswelten zu gestalten?
Unsere bisherige Arbeit konzentrierte sich auf verschiedene Dimensionen feministischer Friedensforschung und untersuchte u.a. Hierarchien von Opferschaft in Kolumbien und die Lebensrealitäten männlicher Überlebender sexueller Kriegsgewalt in Uganda. Unsere Gesprächspartner*innen – wie z.B. ehemalige Kombattanten, Opfer und Überlebende von Gewalt oder humanitäre Helfer*innen – praktizierten regelmäßig Fürsorge und Liebe und erzählten uns davon. Da allerdings bestimmte Themen in der Berichterstattung über Krieg priorisiert werden (z.B. Gewalt, Leid) haben wir es versäumt, diese Erzählungen von Liebe und Fürsorge in unserer bisherigen Arbeit angemessen darzustellen. Dennoch kamen Liebe und Fürsorge immer wieder zur Sprache und machten sich sichtbar – auch wenn wir nicht immer direkt danach fragten, und auch wenn wir sie bisher nicht als zentral für unsere Forschung betrachteten. Vor diesem Hintergrund zielt unser aktuelles Forschungsprojekt explizit darauf ab, Liebe und Fürsorge ernst zu nehmen, um Erfahrungen von Krieg, Gewalt, Frieden und Überleben besser zu verstehen. Wir greifen daher die Anregungen von Angela Lederach auf, die fragt: „Was wird sichtbar – und möglich – wenn wir den Rahmen erweitern und das Objektiv auf Leben und Liebe richten, anstatt das Sichtfeld auf Tod und Leiden zu beschränken?“1
Wir betrachten Liebe und Fürsorge nicht nur als Gefühle, sondern auch als aktive Praktiken und potenzielle Orte der Politik, die beeinflussen, wie Menschen Gewalt überleben und sich ein Leben danach vorstellen und wieder aufbauen. Wir verzichten dabei bewusst auf eine vorgegebene Definition von Liebe oder Fürsorge und lassen uns stattdessen von den Bedeutungen leiten, die unsere Gesprächspartner*innen diesen Begriffen beimessen. Trotzdem lassen wir uns auch von zahlreichen Erklärungsansätzen aus verschiedenen Disziplinen und Praxisfeldern leiten, die uns dabei helfen, die politischen Dimensionen von Liebe und Fürsorge besser zu verstehen.
Mit Blick auf Liebe bietet die Arbeit von bell hooks einen wichtigen konzeptionellen Rahmen, um Liebe als aktives Verb und als eine Reihe interaktiver Prozesse, Handlungen und Praktiken zu verstehen, die in Beziehungen und gegenseitige Abhängigkeiten eingebettet sind. Laut hooks besteht Liebe aus verschiedenen Bestandteilen, inklusive Fürsorge, „Zuneigung, Anerkennung, Respekt, Engagement und Vertrauen sowie ehrliche und offene Kommunikation“.2 Auch wenn romantische und sexualisierte Liebe innerhalb heteronormativer Paarbeziehungen oft unser Verständnis von Liebe dominiert, sind diese Formen der Liebe nur ein Teil dessen, was wir betrachten. Vielmehr interessieren wir uns darüber hinaus auch für die Liebe zur Gemeinschaft, Freundschaft, zum Ort, zur Natur und vieles mehr.
Was Fürsorge betrifft, so konzentrieren wir uns weniger auf die formalisierte Arbeit der professionellen Pflege (z. B. durch Krankenschwestern) und sind stattdessen mehr auf die alltäglichen Erscheinungsformen und Beziehungen der Fürsorge fokussiert, die von unterschiedlichen Menschen praktiziert werden. In diesem Sinne betrachten wir Fürsorge nicht nur als abstrakten gesellschaftlichen Wert, sondern ebenfalls als aktive Praxis, die „alles umfasst, was wir tun, um ‚unsere Welt‘ zu erhalten, fortzuführen und zu reparieren, damit wir so gut wie möglich darin leben können [...]“.3
Aufbauend auf diesen Erkenntnissen lernen wir in diesem Projekt von Forschungsteilnehmenden aus verschiedenen Kontexten – Kolumbien, Uganda, Schottland und Deutschland – wie Praktiken der Liebe und Fürsorge Menschen dabei unterstützen, nach Gewalt, Vertreibung, Konflikten, Krieg, Trauer und anderen Formen des Verlusts ihre Lebensrealitäten neu zu erschaffen. Diese Untersuchungen nehmen unterschiedliche Formen an. Unsere Forschung dokumentiert beispielsweise, wie in Kolumbien und Uganda Opfer- und Überlebenden-Verbände als Orte der Liebe und Fürsorge in der Folge von Gewalt fungieren. Diese Gruppen können als Orte der Fürsorge verstanden werden, an denen Menschen, die gemeinsame Kriegs- und Gewalt-Erfahrungen haben, zusammenkommen und sich gegenseitig auf mitfühlende Weise unterstützen. Andere Facetten dieser Arbeit untersuchen, wie Menschen, die jahrelang in bewaffneten Gruppen verbracht haben, neben Realitäten der Gewalt und des Leids auch soziale Verbindungen, Beziehungen oder Intimität erlebt haben und wie diese Beziehungen sie unter grausamen Umständen am Leben erhalten haben. Eine Gesprächspartnerin, die verschleppt wurde und jahrelang in der Rebellengruppe der Lord’s Resistance Army (LRA) in Uganda verbrachte, erklärte uns: „Ja, hier gab es viel Gewalt und Brutalität, aber es gab auch Gemeinschaft und gegenseitige Fürsorge.“ Solche Wahrnehmungen werden auch von Gruppen von Vertriebenen, die in Deutschland leben und mit denen wir ebenfalls zusammenarbeiten, geteilt. Vor allem junge männliche und rassistisch-diskriminierte Vertriebene werden oft mit Gewalt, Gefahr und Unsicherheit in Verbindung gebracht oder alternativ als von Natur aus verletzlich und auf Hilfe und Schutz von außen angewiesen dargestellt. Wie aber die Vertriebenen, mit denen wir zusammenarbeiten, anmerken: „Die Menschen hier in Deutschland sehen keine Liebe oder Fürsorge in unserem Leben. Natürlich lieben auch wir und kümmern uns um andere, aber sie erkennen unsere Menschlichkeit als Liebende und Kümmernde nicht an.“ Wenn wir diese Dimensionen ernst nehmen, bemerken wir, dass es oft unterschiedliche Praktiken der Liebe und Fürsorge sind, die Menschen am Leben erhalten und ihnen dabei helfen, sich nach der Gewalt ein neues Leben aufzubauen.
Ein weiterer Kernbestandteil dieser Arbeit ist die Erweiterung des Rahmens von Liebe und Fürsorge um die Einbeziehung nichtmenschlicher Elemente, wie z.B. Ort, Natur, Landschaft, Vorstellungen über Vorfahren und Verwandte und vieles mehr. Kritisches Denken in unterschiedlichen akademischen Bereichen erinnert uns an die Verbundenheit aller Lebewesen in Geflechten der Gegenseitigkeit und erkennt relationale Bindungen zwischen gesellschaftlichen, ökologischen und spirituellen Welten an. Vor diesem Hintergrund untersucht unsere laufende Arbeit, wie Menschen in Schottland der Natur, Landschaft und Orten große Aufmerksamkeit schenken. Im Kontext historischer Landenteignung und des anhaltenden Klimawandels können diese Praktiken der Aufmerksamkeit als tiefgreifende, lebenserhaltende Handlungen der Fürsorge verstanden werden. Auch in Uganda leben von Konflikten betroffene Gemeinschaften in enger Verbundenheit mit der Natur, der Landschaft, dem Ort und der spirituellen Ahnenwelt. Im Zuge der Gewalt und angesichts anhaltender Klimaveränderungen und Umweltschäden lehren uns unsere Gesprächspartner*innen, wie sie sich intensiv um ihre Vorfahren sowie um Berge, Flüsse und Bäume kümmern. Dabei betonen sie nicht nur ihre eigene Liebe zur Natur und zu ihrem Lebensraum, sondern auch, wie sie sich von der Natur und ihrem Lebensraum geliebt und umsorgt fühlen.
Wichtig ist, dass wir diese Perspektiven der Liebe und Fürsorge neben anhaltende Erfahrungen von Leid und Gewalt stellen. Diese Realitäten existieren nebeneinander, anstatt sich gegenseitig zu relativieren. Anstatt in unseren Darstellungen an einer idealisierten oder romantisierten Hinwendung zu Liebe und Fürsorge festzuhalten, schlagen wir daher eine Politik der Gleichzeitigkeit vor, die es uns ermöglicht, diese Realitäten parallel und in Relation zueinander zu erkennen. Gleichzeitig ist es auch wichtig anzuerkennen, dass Liebe und Fürsorge selbst oft mit Machtunterschieden verbunden sind und in der Tat grausam, gewalttätig und von Dominanz und Missbrauch geprägt sein können. Während Erzählungen und Ideale über Liebe, Fürsorge oder Mitgefühl oft eine „angenehme Wärme“ ausstrahlen, sind wir darauf bedacht, diese Feinheiten und potenziellen Spannungen in den Vordergrund zu stellen. Wir hoffen dadurch, zu einer realitätsnahen Betrachtung der Beziehungen zwischen Liebe, Fürsorge, Gewalt und Verlust beizutragen.
Letztendlich bietet die Auseinandersetzung mit Liebe und Fürsorge eine differenziertere und facettenreichere Darstellung gelebter Erfahrungen in bewaffneten Konflikten jenseits einer universalisierenden Betrachtung, die sich auf Gewalt und Grausamkeit konzentriert. Die Beleuchtung von Praktiken der Liebe und Fürsorge macht vielfältige Beziehungen und Realitäten sichtbar, die den komplexen Dimensionen von Gewalt und ihren Folgen Rechnung tragen. Daher kann ein Fokus auf Liebe und Fürsorge unser Verständnis davon verändern, wie Frieden aussieht und sich anfühlt, wo er stattfindet, wer an dessen Förderung beteiligt ist und wie Gewalt das Leben der Menschen verändert. Eine Auseinandersetzung mit Liebe und Fürsorge bietet das Potential, uns weg von dominanten individualisierten Verständnissen des Leides und hin zu relationalen Vorstellungen von Gewalt, Überleben und Frieden zu lenken.
Dr. Philipp Schulz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter (Post-Doc) am Institut für Interkulturelle und Internationale Studien (InIIS) an der Universität Bremen. Gegenwärtig leitet er drei verschiedene Forschungsprojekte als Principal Investigator, darunter ein Projekt zur Rolle von Liebe und Fürsorge in bewaffneten Konflikten in Kollaboration mit Dr. Roxani Krystalli, Senior Lecturer (Associate Professor) an der University of St Andrews of International Relations mit Fokus auf feministischer Friedens- und Konfliktforschung sowie der politischen Dimensionen von Natur und Ort.
Rebecca Katusiime & Emmanuel Oloya: Love, War and Care, 2024
Gedicht: Rebecca Katusiime, Video: Emmanuel Oloya.
Das Werk entstand im Rahmen des partizipativen Forschungsprojekts und der Ausstellung Love and Care in Conflict and its Wake, realisiert in Zusammenarbeit mit jungen Künstler*innen aus Gulu, Nord-Uganda, 2024.
- 1 Angela Lederach: Feel the Grass Grow: Ecologies of Slow Peace in Colombia. Redwood City: Stanford University Press, 2023, S. 398
- 2 bell hooks: All about Love: New Visions. New York: William Morrow, 2001, S. 4-5
- 3 Joan Tronto, Joan. 1993. Moral Boundaries: A Political Argument for an Ethic of Care. London: Routledge, 1993, S. 103